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Geschlechterspezifische Medizin voranbringen I: Versorgung und Behandlung weiter stärken

04.10.2021 - Antrag | 18/21180

Initiatoren:
Beate Merk, Bernhard Seidenath, Thomas Huber, Ute Eiling-Hütig, Tanja Schorer-Dremel, Winfried Bausback, Barbara Becker, Alfons Brandl, Gudrun Brendel-Fischer, Matthias Enghuber, Karl Freller, Petra Guttenberger, Andreas Jäckel, Petra Högl, Jochen Kohler, Petra Loibl, Martin Mittag, Helmut Radlmeier, Barbara Regitz, Franz Rieger, Andreas Schalk, Ulrike Scharf, Angelika Schorer, Sylvia Stierstorfer, Florian Streibl, Fabian Mehring, Susann Enders, Peter Bauer, Manfred Eibl, Hubert Faltermeier, Hans Friedl, Tobias Gotthardt, Eva Gottstein, Wolfgang Hauber, Johann Häusler, Leopold Herz, Alexander Hold, Nikolaus Kraus, Rainer Ludwig, Gerald Pittner, Bernhard Pohl, Kerstin Radler, Robert Riedl, Gabi Schmidt, Jutta Widmann, Benno Zierer

Geschlechterspezifische medizinische Gesichtspunkte erhalten im Bereich der Medizin aber auch politisch sowie gesellschaftlich noch längst nicht den Stellenwert und die Berücksichtigung, die sie benötigen. Der Landtag betont, dass geschlechtsspezifische Medizin und damit die besondere Beachtung der biologischen Unterschiede von Männern und Frauen durch geeignete Maßnahmen als ein zentrales Thema der Gesundheitspolitik und der Gesundheitsversorgung zu verankern ist.


Damit trotz unterschiedlicher Symptomatiken bei Erkrankungen sowie unterschiedlicher Wirkungsweisen von Medikamenten eine optimale gesundheitliche Versorgung von Männern UND Frauen geschaffen werden kann, wird die Staatsregierung im Rahmen vorhandener Stellen und Mittel dazu aufgefordert,



  • auf geeignete Art und Weise auf Hochschulen und Universitäten zuzugehen und verstärkt auf die wachsende Relevanz des Themas der geschlechterspezifischen Medizin hinzuweisen,

  • sich auf Bundesebene weiterhin dafür einzusetzen, dass das Thema in das Pflichtcurriculum an medizinischen Fakultäten aufgenommen wird, und einen solchen Schritt auch landesweit umzusetzen,

  • geschlechtersensible Medizin noch stärker in den Bereich der Forschung einzubinden und das Thema auch für die Öffentlichkeit transparent zu machen, und

  • akademische Karrieren von Frauen, insbesondere im Bereich der Medizin, aktiver zu unterstützen.

  • in allen Schularten zu prüfen, ob es Anpassungsbedarfe in den Lehrplänen gibt, um mehr und zielgerichteter auf geschlechtsspezifische Unterschiede hinzuweisen.


Zudem wird die Bayerische Landesärzte- und Landeszahnärztekammer gebeten, die inhaltlichen Vorgaben für die ärztliche und zahnärztliche Weiterbildung im Hinblick auf eine geschlechterspezifische medizinische Versorgung zu verbessern und auszuweiten. Die Themen Prävention, Diagnostik und Therapie sollen dabei unter der expliziten Berücksichtigung von Geschlechtsunterschieden eine entscheidende inhaltliche Rolle spielen.


Beim Thema der geschlechtersensiblen Medizin im Allgemeinen und nicht zuletzt hinsichtlich des Umgangs mit Covid und Long-Covid appelliert der Landtag an eine wachsende Sensibilität der Ärzteschaft und setzt sich, auch über die obig genannten Forderungen hinausgehend, für deutlich bessere Rahmenbedingungen für die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Faktoren ein.


Die Staatsregierung wird gebeten, dem Ausschuss für Gesundheit und Pflege über Fortschritte beim Thema der geschlechterspezifischen Medizin zu berichten.



Laut einer MEDA-Studie (Munich Examination of Delay in Patients Experiencing Acute Myocardial Infarction) aus dem Jahr 2017 dauert es bei 65-jährigen Frauen mit Herzinfarktsymptomen und einer ST-Strecken-Hebung im EKG bis zu viereinhalb Stunden, bis sie in der Notaufnahme behandelt werden. Gleichaltrige Männer hingegen konnten etwa eine Stunde schneller behandelt werden: eine Stunde, die nicht selten über Leben und Tod entscheidet. Dieser vom Deutschen Ärzteblatt beschriebene Fall veranschaulicht, exemplarisch für viele Gesundheitsbereiche, folgende Beobachtung:


Auch heute noch werden Frauen und Männer bei medizinischen Fragen (außer in den Bereichen der Urologie und Gynäkologie) meist so behandelt, als gäbe es zwischen ihnen keine biologischen Unterschiede. Noch immer wird das Geschlecht bei Fragen der Diagnosestellung, bei Therapien sowie bei der Forschung nach Medikamenten zu wenig beachtet und berücksichtigt.


Dabei steht fest: Frauen und Männer unterscheiden sich in ihrem Körperbau und auch in den Abläufen ihres Organismus. Frauen sind meist kleiner und leichter. Sie haben meist geringere Muskelanteile, einen höheren Fettanteil und einen geringeren Wasseranteil im Körper, und vor allem einen völlig anderen Hormonhaushalt als Männer. Das heißt in der Konsequenz: Das männliche Immunsystem reagiert anders auf Krankheitserreger als das weibliche. Die Organe unterscheiden sich zum Teil bis in die Zellstruktur und in die Zusammensetzung der Enzyme hinein. Auch die Arbeitsweise der Organe sowie der Stoffwechsel unterscheiden sich. Besonders ins Gewicht fallen folgende Beobachtungen: Das Herz von Frauen ist durchschnittlich kleiner und aufgrund dessen weniger elastisch als das von Männern. Frauen nehmen oft zusätzliche Hormone wie die Pille ein und haben aufgrund der Menopause völlig andere Voraussetzungen. Unterschiedliche Lebensstile (z.B. bei Ernährungs- und Trinkgewohnheiten, bei Tabak- und Alkoholkonsum, bei der Wahrnehmung regelmäßiger Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen sowie Präventionsangeboten) und geschlechterabhängige berufliche Tätigkeiten beeinflussen unter anderem das Krebsrisiko.


Der Maßstab bei der Medikamentengabe und in vielen anderen Bereichen der Medizin ist aber nach wie vor der männliche Körper, genauer gesagt: der eines 75 Kilo schweren Mannes. In der Erforschung von Therapien, inklusive hinsichtlich deren Dosierung, Einwirkungen, Nebenwirkungen, Verteilung und Auswirkungen auf den Körper, sind es immer noch vor allem Männer, an denen Studien vorgenommen werden: auch weil befürchtet wird, dass der weibliche Zyklus auf die Forschungsergebnisse Einfluss haben könnte. So ist es kein Wunder, dass in der Folge manch falscher Dosierungen von Medikamenten bei Frauen und fehlender Erprobungen der Arzneimittel bei Frauen öfter Nebenwirkungen mit sich bringen.


All dies findet trotz längst bekannter Tatsachen statt, die aufzeigen, dass für Männer und Frauen unterschiedliche Symptome, etwa bei einem Herzinfarkt, (zum Nachteil von Frauen) typisch sind. Zudem gelten Stressfaktoren, darunter Einsamkeit oder Probleme im Beruf oder in der Partnerschaft, deutlich stärker als Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen als bei Männern. Angesichts des Fakts, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen Deutschlands Todesursache Nummer 1 darstellen, kann und muss das geschlechterspezifische Ungleichgewicht in der Beschäftigung mit diesem Sachverhalt besonders markant dargestellt werden. Es gibt aber auch Stereotypen und ein fehlendes geschlechterspezifisches Wissen, etwa über Brustkrebs oder psychische Erkrankungen, die sich zum Nachteil der Diagnosestellungen bei Männern auswirken.


Ob männlich oder weiblich: es wäre für jedermann und jedefrau ein wichtiger Meilenstein, individuell und unter Berücksichtigung des eigenen Körpers nach bestem Stand der Wissenschaft behandelt und wenn nötig therapiert werden zu können. Die Zeit drängt. Denn tagtäglich werden aufgrund eines eindimensionalen Blicks auf typische Symptome Fehldiagnosen gestellt. Tagtäglich nehmen Frauen für sie nicht passende, zu schwer verträgliche Medikamente bzw. Medikamente in für sie nicht geeigneten Dosen ein, da für sie passende Studien, Empfehlungen und erfasste Erfahrungswerte noch ausstehen. Dem muss, zum Wohle der ganzen Gesellschaft, Schritt für Schritt entgegengewirkt werden.

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